Wild auf einen Sieg

Um Burg Nideggen rankt sich eine Geschichte, über die noch heute viele nachdenken – immer dann, wenn sie einen Hund sehen:

Bergstein im Jahr 1542: Waffenklirren, Säbelrasseln, Kampfgeschrei: Wütend schlägt der Hauptmann das Hoffenster zu und hockt sich an den Holztisch. „Verflucht. Immer nur Schaukämpfe, Waffenübungen. Es muss doch einen Weg geben, diesen Steinhaufen einzunehmen.“ Er zeigt nach Osten, wo sich die roten Brocken von Burg Nideggen über den Wäldern türmen. Die Lippen zusammen gepresst, die schwarzen Augen zu Schlitzen verengt, geifert er: „Woche um Woche hocken wir hier in diesem gottverlassenen Bergstein. Auf was zum Teufel warten wir noch?“

Sein Adjutant zuckt zusammen. Manchmal hilft Schnaps. Vorsichtig stellt er den schweren Krug auf den Tisch. Der Hauptmann fegt das Gesöff auf den Boden: „Hast Du je von einer Burg gehört, die uneinnehmbar ist? – Lächerlich.“ – „Burg Nideggen hat diesen Ruf“, wagt der Adjutant zu flüstern und denkt resignierend an die Fakten:

Die Grafen von Jülich beherrschen seit Menschengedenken das Grenzgebiet. Niemand konnte bisher die Höhenburg bezwingen:  Ihr Felsplateau stürzt nach drei Seiten hin in die Tiefe. Nur ein Weg führt ins waffenstarrende Herz, bewehrt mit Eisentoren, Schießschächten und Wachtürmen. Ein Bollwerk, in dem am Gespinst der Macht gewebt wird.

„Wir zählen das Jahr 1542“, schreit der Hauptmann. „Wir gehören zu den siegreichen Truppen Karls V., und wir sind dabei, diesem Spuk endgültig ein Ende zu bereiten. Die Burg wird fallen. Das ist nur eine Frage der Zeit.“ – ‚Ja‘, denkt der Adjutant, ‚aber wir müssen auf den Hauptverband der Kaiserlichen warten – mit seinem schweren Geschütz.‘

Der Hauptmann ist aufgesprungen, sein Stuhl fällt polternd auf den Steinboden. „He, nimm den größten Hund, den Du finden kannst, und zieh ihm das Fell ab.“

Entsetzt starrt ihn der Adjutant an. „Was ist?“ – „Besorg mir ein Hundefell, aber rasch. Ich lege mir den gottverdammten Pelz zur Tarnung über. Ich kenne ein Schlupfloch in der Burg. Dort steig ich ein und lass‘ die Truppen nachkommen. Heute Abend lauf ich los. Bis dahin brauch ich das Fell.“

Dunkelheit hat Bergstein eingehüllt. Ein Käuzchen beklagt die Nacht. Der neue Mond bestickt den tiefschwarzen Himmel. Der Hauptmann rüpelt letzte Anweisungen: „Ihr folgt mir in einigem Abstand. Bin ich in der Burg, öffne ich die Tore, dann dringt ihr ein und tötet so viele Gegner wie möglich. Mein Plan ist einfach und effektiv. Ich werde siegen.“ –

Stille. Endlich wagt einer zu reden: „Was ist, wenn Sie trotzdem entdeckt werden?“ – Der Hauptmann verzieht verächtlich das Gesicht und spuckt auf den Boden. „Dann versetze ich bis in alle Ewigkeit Wanderer in Angst und Schrecken.“

Er zieht sich das Hundefell über und hastet in die Nacht. Die Soldaten folgen keuchend. In einem Dickicht am Fuß des Gemäuers kampieren sie und lauschen in die Dunkelheit.

Stunden verstreichen. Nichts rührt sich. Lautlos zieht der schmale Mond seine Bahn. Von Ferne klagt leise das Käuzchen.

Plötzlich ein Schuss. Gepolter. Schreie. Auf dem Graziasturm bricht ein Sturm los. „Wir haben ihn, den falschen Hund.“ – Lautes Gelächter. Türenschlagen.

Die Soldaten sind entsetzt. Hals über Kopf rennen sie zurück Richtung Bergstein, verschanzen sich in ihrem Quartier und warten. Vergebens. –

Nie wieder hören sie von ihrem Hauptmann.

Aber zur Ruhe kommt er nicht: Noch heute schwören Wanderer, die es wagen, nachts durchs Sürthgen zu laufen, dass er kommt, der wilde Hund – schnaufend, geifernd, bockend – und wild auf einen Sieg….

 

 

Wirf mal mit Knöchelchen

So waren sie, die armen Eifeler Jahre: 

Die Knochen von Schweinsfüßen sind ja eigentlich nichts besonderes. Es sei denn, sie werden von kleinen Mädchen zum Spielen benutzt – und das war in der Eifel im vorigen Jahrhundert ganz alltäglich: Prekele nannten unsere Urgroßeltern das seltsame Treiben, und sie verpassten den einzelnen Seiten des Knochens Namen: „Buch“, „Lauch“, „Zump“ oder „Zup“. Zum Gaudi der Umstehenden musste die Spielerin das Schweinebein hoch in die Luft werfen und versuchen, es auf der richtigen Kante auftitschen zu lassen. Wer am häufigsten melden konnte, dass sein „Buch“ auf der Erde lag, hatte gewonnen.

Das Prekele ist eines von vielen seltsamen Kinderspielen, die noch nicht vergessen sind. Oft war vor allem Phantasie gefragt; denn wertvolles Spielzeug wie ein Dreirad oder eine Eisenbahn gab es noch nicht. Manch einer verbrachte sogar beim Unkrautjäten kurzweilige Stunden, und das ist schon erstaunlich, denn diese Beschäftigung hielt die Mädchen früher ganz schön auf Trapp. Da es kein Fertigfutter gab, mussten sie regelmäßig Gras schneiden und das Vieh damit füttern. Dabei entstand ein witziges Rätselraten: Wenn jeder sein Häufchen gesammelt hatte, wurde unter einen Berg ein Stein gelegt. Wer erriet, wo der steckte, durfte auch das Sammelwerk der Freundinnen mit nach Hause tragen.

Doch nicht immer ging es so lustig zu: Im vorigen Jahrhundert waren Not und Elend so groß, daß die Eifel geradezu verschrieen war und die Menschen ihre eigene Heimat verleugneten, wie der Bonner Dichter Karl Simrock 1840 entdeckte: „Von welcher Seite man auch hineinkommen mag, nirgends wollen die Leute in der Eifel wohnen, überall fängt sie erst drei Stunden weiter an“, notierte er. „Wer nit her muß, der, mein’ ich, soll’ bessern Weg finden“, soll eine Wirtin einem euphorisch von der Landschaft schwärmenden Wanderer zugerufen haben. Das Wort von „Preußisch-Sibirien“ machte die Runde: Wölfe heulten in den Wäldern, Seuchen breiteten sich aus, und zu essen gab’s Kartoffeln und Erbsen – es sei denn, Missernten nahmen auch den letzten Erdapfel vom Teller.

Von den neuen Wundermaschinen der aufkeimenden Industrialisierung hörten die Eifeler nur Berichte: Da die preußische Regierung es nach dem Deutsch-Französischen Krieg (1870 – 71) versäumt hatte, ihre Region verkehrstechnisch zu erschließen, fand der wirtchaftliche Aufschwung im Rheinland statt. Dorthin zog es auch viele Eifeler, wie Clara Viebig in ihrem 1900 erschienenen Roman „Das Weiberdorf“ beschreibt: „Die Männer von Eifelschmitt hatten nie Zeit; rasch wurde geliebt, rasch wurde gefreit. Zweimal im Jahr – im Winter zu Weihnachten, im Sommer zu Peter und Paul – kamen sie heim ins enge Salmtal. Sie konnten da nicht ihren Lebensunterhalt verdienen; der Erwerb ist knapp in der Eifel, karg hängen die Äckerchen in den Bergen, lang sind die Winter, kurz die Sommer.“

Auch in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts war das Leben noch kein Zuckerschlecken: Die meisten Eifeler mussten mit genagelten Schuhen durch die Kindheit gehen: Leder war teuer und deshalb wurde versucht, die Haltbarkeit der Treter zu verlängern: Vorne, hinten und an den Seiten waren Eisenplättchen befestigt, dazu kamen unzählige Eisennägel, die – auf der ganzen Sohle verteilt – eingehämmert wurden. Zum größten Fest der Kinder – zur Erstkommunion – gab es ein paar neue Schuhe, aber schon an den darauffolgenden Tagen mussten die Kleinen zum Schuster gehen und sich „beschlagen“ lassen. Angenehm war das nicht: Im Sommer wurden die Schuhe zur Last, zumal das ganze Jahr über dicke selbstgestrickte Strümpfe dazu getragen wurden. Nur im Winter hatten die Kinder ihr Gaudi: Auf zugefrorenen Tümpeln oder in vereisten Straßenrändern wurde „de Isbaan geschlaare“ – da waren die genagelten Schuhsohlen unschlagbar.

Moselfahrt + Zupferausflug 005

Glaubt man einem Schriftsteller wie dem Bad Münstereifeler Heinz Küpper, gab es nicht viel zu lachen. Ein Bild, das seinen Vater mitsamt den Junggesellen des Ortes Lückerath bei Mechernich zeigt, spricht für ihn Bände: „…sie blicken ernst, und die sich auf dem Erdboden niedergelassen haben, blicken finster, und die in der Mitte unten, die den Oberkörper zurückgleiten lassen und sich auf den Ellbogen stützen, am finstersten, als müssten sie mit diesem Gesichtsausdruck kompensieren, was die übrigen, sitzend oder stehend, auf jeden Fall wahren, die soldatisch gerade Haltung. So zeigt das Bild einen irritierenden Gegensatz von Anmut und Strammstehen, Feststimmung und gesammeltem Ernst, Gleichförmigkeit und ausgeprägter individueller Verschiedenheit.“

Für Schriftsteller Küpper sind die Eifeler auf seinem Familienfoto allesamt kleine Dorfhandwerker, die es schwer hatten, ihrer Bestimmung und dem eingeschränkten Gesichtskreis ihres Dorfes zu entwischen, denn nicht nur die Lebens- und Arbeitsbedingungen, auch die Sitten waren früher wesentlich rauher als heute: Wurde ein Paar beim unerlaubten Techtelmechtel erwischt, hatte es nichts zu lachen. Mit Bollerwagen und Eisenrädern zogen die Dorfburschen vors Haus des Fremdgängers und machten ein schrilles Spektakel.

Für Heimatforscher sind solche Einzelheiten ungemein interessant. Schließlich sollen auch die Enkel noch wissen, wie es früher zuging auf der heimatlichen Scholle. Deshalb werden im landwirtschaftlichen Bereich vielerorts nicht nur die Gegenstände gehütet, sondern auch ihre Namen: Das „Schlotterfass“ ist dafür ein Beispiel. Das war ein Kuhhorn, das früher beim Sensen um den Bauch gebunden wurde, um den Wetzstein darin aufzubewahren. Da es beim Gehen am Hosenbund schlotterte, erhielt es seinen Namen. Heute redet kaum noch jemand davon und auch mit der Sense ist fast niemand mehr vertraut.

Eine alte Kultur geht unter. Und doch gibt es dann und wann noch Parallelen zur heutigen Eifel, die von Pendlern, Nebenerwerbsbauern, Touristen und Freizeitjägern geprägt ist: „Oh, Bur, wat kost din Heu?“ hieß ein beliebtes Singspiel, das schon die Urgroßeltern gespielt haben.

Und diese Frage ist – leicht abgewandelt – immer noch ganz alltäglich.

Aus dem Reiseführer:
Ulrike Schwieren-Höger: Unterwegs in der nördlichen Eifel, Grenz-Echo, Eupen

Über mich

John Seymour ist an allem schuld. Der Bauer aus dem englischen Suffolk setzte mir diesen Spleen vom „Leben auf dem Lande“ in den Kopf – mit Büchern, die an die Bilder der Kindheit erinnern. Der Hof mit dem Schwein in der Suhle und dem Hahn auf dem Misthaufen ist ein Lieblingsmotiv der Kleinsten, und Seymour machte daraus Bilderbücher für Erwachsene, die in Supermärkten davon träumen, ihre eigenen Kartoffeln zu ziehen und mit jedem Ausflug ins Grüne die Sehnsucht nach Alternativen nähren.

Seit 35 Jahren lebe ich in der Eifel und im Laufe der Jahre habe ich immer weitere Kreise gedreht: Das Rurstädtchen Heimbach ist Ausgangspunkt für unzählige Ausflüge gewesen, die auch in die angrenzenden Nachbarländer Belgien, Frankreich und Holland führten.

Seit den 80er Jahren habe ich Impressionen gesammelt und in mehr als zehn Reiseführern und Bildbänden verarbeitet, die eins ins Blickfeld rücken: Die Vielfalt einer eigentümlichen Landschaft:  Wer, wie die Ostbelgier, immer mal wieder das Vaterland wechseln musste und die Barbarei der Ardennenoffensive ertragen hat, weiß ebenso wie die Menschen im Hürtgenwald, dass eine Grenzregion zum Alptraum werden kann, wenn nichts als Waffen sprechen.

Heute punkten grenzüberschreitende Ideen: Der „Deutsch-belgische Naturpark Hohes Venn-Eifel“ zeigt, dass die Region landschaftliche Gemeinsamkeiten hat, und die Nähe zum Nachbarn verführt zu Ausflügen und Treffen.

Auf dieser Seite stelle ich in loser Folge Spezialitäten der Region vor – immer mit dem Wunsch, das Andersartige und Ungewöhnliche zu zeigen und die Schönheit und Vielfalt dieser grenzenlosen Landschaft zu feiern.

Ulrike 4

Ulrike Schwieren-Höger

http://www.schwierenhoeger.com

 

Höhen, die kein Lachen kennen

Das Hohe Venn ist eine Landschaft von bedrohlicher Einsamkeit – eine Quelle von Sagen und Legenden. Deshalb gelingt es gerade hier, das Unsichtbare zu sehen:  

Im Dämmerlicht schauen Augen aus den Erdwänden, Feuchtigkeit webt silbrige Schleier im Moos, tiefschwarz behaarte Arme recken sich aus Wurzelmäulern. Von ferne gurrt eine Taube das Abendgebet. Es knackt in den Ästen, es raschelt im Gebüsch, Wasser mäandert talabwärts vorbei an den Palästen der Trolle tief unten im Erdreich. „Wer sich auf sie einlässt, verliert seine Zeit“, flüstert Lotte von der Inde und nimmt die Hand eines Kindes, das mit zitterndem Mund auf die Schatten am Bachufer starrt.

Der Wald unterhalb von Haus Ternell ist ein offenes Märchenbuch. Neben einem Holzsteg über den Bach reckt sich der „Hüter der Lügenbrücke“, ein Monster mit grässlichen Augenhöhlen, wirren Grashaaren, warzigen Holzhäuten und Steinzähnen, und droht jedem Lügner, den Steg einstürzen zu lassen, wenn er darüber geht. Die Kinder glauben ihm aufs Wort. Zögernd betreten sie die Brücke, wohl überlegend, wann sie das letzte Mal die Unwahrheit gesagt haben, und entsetzt sehen sie wenige Meter weiter: Da ist tatsächlich eine Holzbrücke eingestürzt, eigentlich noch intakt und doch verstrickt in den Wässern des Ternell-Bachs.

Lotte von der Inde ist Geschichtenerzählerin, und sie liebt das Venn wie seine Märchen. Tief unten im Wald, direkt an den Ufern der steindurchwirkten Hill, die silbrig glänzend durch eine Urlandschaft zieht, zeigt sie in der Walpurgisnacht auf das Kruzifix an einer Buche und lächelt: „Hier können keine Geister sein.“ Aber im roten Abendlicht kann sie hier vom Erdweibchen aus Mützenich erzählen, das die kleine Marie bat, es zu kämmen – unter dem Grün einer Eiche. Das Kind nahm zögerlich den Kamm und zog ihn durch die langen weißen Haare der kleinen Frau. Mühsam war die Arbeit, eiskalt die Kopfhaut. Marie erschauerte. Doch sie kämmte weiter bis auch das letzte Haar frischen Glanz hatte. Zum Dank bückte sich das Erdweibchen, sammelte mit seiner Schürze ein Häufchen Laub auf und schenkte es Marie. Dann verschwand es hurtig. Enttäuscht ließ das Kind die Blätter zu Boden fallen und rannte nach Hause. Die Mutter empfing es mit offenen Armen, doch wie staunte sie, als ein Goldtaler aus dem Schürzchen der Kleinen fiel. Da begann das Kind zu weinen. Es erzählte vom Erdweibchen und wusste, dass es mit den Blättern einen Schatz in alle Winde gestreut hatte…

Wer durchs Venn zieht, hört viele solcher Geschichten, und wenn er sie nicht hört, spielt die eigene Phantasie ihm einen Schabernack. Dann erinnert er sich in den ziehenden Nebeln an den Venngeist, der in einer Torfhütte lebt und Hüter des Mooses und der Beerensträucher ist.  Seine kleinen Helfer, die Wassermännlein, tragen eine Tarnkappe aus Wollgras. Und seine Frau, die Moorhexe, befielt den Nebeljüngferchen, übers Venn zu tanzen und Schleier zu wirbeln. Menschen, die so etwas sehen, verirren sich im Venn. Und nur wer Glück hat, dem schickt der Venngeist ein Wassermännlein zu Hilfe, das ein kleines Licht anzündet und auf den rechten Weg zurückführt.

Wanderer erzählen sich auch gerne von Gilles, dessen Seele keine Ruhe finden kann. Er war Schäfer im Venn, als das Gasthaus Mont-Rigi noch Haus Hoen hieß. Hässlich war Gilles, ein abscheulicher Gnom, der die Menschen mied und seiner einsamen Wege ging. Doch eines Tages, im Frühling 1883, verliebte er sich in Pauline, die neue Dienerin des Hauses Hoen. So sehr verliebte er sich, dass er ihr auflauerte und um ihre Gunst flehte. Sie aber lachte nur und wies ihn höhnisch ab. Da verfluchte Gilles sie und nahm den Strick. Seitdem geistert er an nebligen Tagen durchs Venn. Wer ihn sehen möchte, sollte das Gasthaus Mont-Rigi einmal genauer betrachten. Kann es sein, dass dort oben an der Fassade ein Zwerg mit einem Strick um den Hals sitzt, hässlich und grinsend; ein Zwerg, der aussieht wie Gilles?

Kobolde, Elfen, Feen und Hexen. Alle sind zuhause im Venn. Und wer ein Gespür für das Numinose hat, sieht auch die vier Haimondskinder auf ihrem Riesenpferd Bayard durch die Nebel hetzen – auf der Flucht vor der Rache Karls des Großen. Oder er entdeckt den bekanntesten „Hexenplatz“: Genau dort, wo der Kranzbach in die Kall mündet, ist ein Schnittpunkt alter Wege, die ins Moor führten. Hier trafen sich die Hexen ringsum zum Tanz. Und ist es ein Wunder, dass genau dort heute geschütztes Revier ist, in dem das seltene Braunkehlchen nistet?

Auch wer all das nicht glaubt, erfährt im Venn Geschichten, die das Herz berühren. Fast jedes Kreuz im weiten Moorland ist verwoben mit einem Mythos, der manchmal Jahrhunderte überlebt und jedes erzählt vom Schicksal und allzu oft auch vom Tod. Das berühmteste von allen, das Kreuz der Verlobten, ist ein Anziehungspunkt für viele Wanderer.

Wie oft ist sie schon erzählt worden die Geschichte von Francois Reiss aus Bastogne, der beim Bau der Gileppe-Talsperre Arbeit gefunden hatte, und Marie-Josèphe Solheid aus Xhoffraix, die in Halloux angestellt war. Die Beiden, 32 und  24 Jahre alt, verließen gegen Mittag Jalhay und machten sich auf den Weg nach Xhoffraix, um alles Nötige für ihre Hochzeit zu besorgen. Sie kamen dort nie an. Der Schnee, die Kälte, der Sturm, die trügerischen Wege des Venn wurden ihnen zum Verhängnis. Marie starb vor Erschöpfung, Francois wollte Hilfe holen, aber auch er verirrte sich und fand nicht zurück. Ihre Leichname wurden erst im März entdeckt, als der Frühling das Land endlich aus dem Zwinggriff des Winters befreit hatte.

So viele Kreuze, so viele Schicksale, das weite Venn ein Friedhof, abweisend und gefährlich. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war das sumpfige Gelände ohne die heute vertrauten Straßen eine Todesfalle: So erzählt das Kreuz aus Recher Blaustein am „La Béole“ von Léonard Christiane, der 1839 ins wallonische Venn zum Mähen gegangen war und auf dem Rückweg vom Blitz erschlagen wurde. Und der Förster Jacob Mockel wurde 1626 im Fagne de Potales umgebracht.

Geschichten über Geschichten erzählt das Venn: Und die Kreuze tun das ihre. Einige – wie das Priorkeuz in den „Potales“ – dienten zur Sicherung von Grenzen, andere mahnen an die Wirren des Krieges, wie das Kreuz der russischen Gefangenen, derer seit 1963 rund 100 Meter nordöstlich der Brücke von Bosfange an der Rur gedacht wird, oder das Kreuz der gefallenen Amerikaner am Rande eines Wasserlochs, das ein amerikanisches Flugzeug nach seinem Absturz im Sommer 1944 hinterließ.

Auch Denkmäler erzählen vom Grauen und von den jungen Männern aus Übersee, die hier in den Weiten des Venn ihr Leben lassen mussten: Das amerikanische Denkmal von Gayetal, das englische von Rhus, das englisch-kanadische von Malchamps. Sie alle wissen um Tod und Untergang in den stillen Weiten einer Welt, die jenseits unseres Alltags zu liegen scheint und nur darauf wartet, geweckt zu werden aus der Todeinsamkeit der kargen Höhen des Hohen Venn, die „kein Lachen kennen“, wie Clara Viebig so treffend formuliert hat: „Stumm dehnt es sich endlos – Welle auf, Welle ab – im grausamen und doch gewaltigen Einerlei. In fernster Ferne, dunstblau und schwer, lastet der Horizont. Wo kommt man dahin, was da wohl sein mag?! Man weiß es nicht….“  

Auszug aus: Das Hohe Venn, Grenz-Echo Verlag, Eupen

Flucht vor dem Geschwätz

Erbsensuppe macht Marketing für Kloster Mariawald:

Tag für Tag wird gelöffelt. Wer die Türen der Gaststätte von Kloster Mariawald öffnet, gleich links vom Hauptportal, schräg gegenüber der Buchhandlung, schnuppert sofort, was hier auf den Tisch kommt: Erbsensuppe ist im Kloster die Spezialität. Vor rund 50 Jahren erfunden und in schlichten weißen Schalen serviert, auf Wunsch verziert mit einer Bockwurst. Voilà. Was braucht der Wanderer mehr als Grüne Erbsen, Schweineschwarte und ein paar Gewürze? Damit hat es die Suppe bis zu „Manufaktum“ geschafft. Sie wissen schon: Das ist die Firma mit dem Slogan „Es gibt sie noch, die guten Dinge“ und dem Sammelsurium von Altbewährtem.

So etwas wird im Kloster Mariawald kultiviert. Auf vielerlei Gebieten. Die Ausflügler hocken an derben Tischen und schauen auf Wald und Wiese, wo Kühe Gras rupfen. Der 1901 geborene heilige Bernhard hat sie gerne beobachtet. In ihnen sah er ein Sinnbild seiner Mönche: Wie die Kühe, die geduldig wiederkäuen, so sollen auch die Brüder Gottes Wort als geistige Nahrung wieder und wieder verdauen.

Wer will, entdeckt überall in Mariawald Geheimnisse eines solchen Lebens in Kontemplation.  Schon der Wahlspruch des Klosters „Luceat lux vestra – Euer Licht soll leuchten“ verrät, dass dieser Ort mit Licht und Schauen zu tun hat. Oberhalb von Heimbach liegt er, 417 Meter hoch über den tief eingeschnittenen Tälern der Rur und der Urft mitten im Kermeter. Ausblicke und Einblicke in die anrührend schöne Landschaft wecken eine unerklärliche Sehnsucht, hinter die Fassaden des einzigen männlichen Trappistenklosters in Deutschland zu schauen.

Doch die heitere Offenheit, die den Besucher zunächst umfängt, ist trügerisch. Zwar kann jeder dem Gottesdienst in der schlichten gotischen Kirche beiwohnen oder von der Erbsensuppe in der Gaststätte probieren, doch das lateinische Wort „claustrum“ wird hier wörtlich genommen: Es bedeutet Schloss, Verschluss, und so ist ein weithin sichtbares, glühend rotes Tor inmitten der weißen Mauerlandschaft rund um das Kloster Symbol dafür, dass dieser Ort ein merkwürdig abgeschlossenes Eiland in unserer kommunikationssüchtigen Welt ist. „Je mehr ein Mensch sich selbst, die Welt und Gott finden will, desto mehr und öfters muss er sein Tor schließen“, heißt es in einer Broschüre über Mariawald.

Der Heilige Benedikt von Nursia (ca. 480 – 550), Gründer des Mönchstums im Abendland, hat dem Tagesablauf drei Elemente gegeben, die in Mariawald bis heute beherzigt werden: Stundengebet, körperliche Arbeit und Lesung. Mit einem Satz umschreibt Benedikt das Wesen des Mönchtums: „Durch die Mühe des Gehorsams heimkehren zu dem, von dem man durch Ungehorsam weggelaufen ist.“ Das Kloster – eine  Schule, in der gegenseitige Achtung, Liebe und Hilfe gelehrt wird.

Das Geheimnisvollste aber, das den Menschen draußen an den Gasthaustischen des Klosters immer wieder ein Kopfschütteln abringt, ist das Schweigegelübde der Mönche. „Albernheiten aber, müßiges und zum Gelächter reizendes Geschwätz verbannen und verbieten wir für immer und überall. Wir gestatten nicht, dass der Jünger zu solchem Gerede den Mund öffne“,  steht klar in der Benediktusregel.

So entfliehen die Mönche von Mariawald noch heute dem Geschwätz der Welt hinter dicke Mauern, suchen – während vor ihren Toren die Ausflügler tratschen und plaudern – im Schweigen die Einsamkeit und sind doch nicht allein. Gemeinsam wird gebetet und gearbeitet – und gemeinsam wird das Allernötigste besprochen.

Schon tief in der Nacht, kurz nach 4 Uhr morgens, beginnt das Gebet der Vigilien. Das Dunkel hält die Kirche noch in seinem Bann, jedes Geräusch, jede Bewegung ist von Schatten geprägt. Das Unbewusste regiert das Bewusstsein und die Mönche schreiten durch die Finsternis zum Gebet. „Wer Gott finden will, muss die Helle, den Tag, der der Bereich des Menschen ist, hinter sich lassen und in die Nacht gehen“, heißt ihr Gebot wie eh und je.

Besonders eindringlich ist die Weihnachtsnacht. Dann kann die Kirche die Schar der Gläubigen kaum fassen, die ihre Autos zur Andacht steuern und kurze Zeit teil haben wollen an der Einsamkeit des mönchischen Leben und vom Glauben zum Schauen kommen möchten – wenigstens eine Heilige Nacht lang.

An den übrigen Tagen gelten die Regeln des Heiligen Benedikt von Nursia. Und das ist nicht selbstverständlich. In den Jahrhunderten, nachdem er seine Gebote aufgestellt hatte, gingen viele Mönche eigene Wege: Sie wurden Priester, Missionare und Lehrer. Manche waren so wohlhabend geworden, dass sie Handarbeit verschmähten; andere entflohen der Einsamkeit.

Nach langen Richtungskämpfen zogen 1098 rund 20 Mönche mit ihrem Abt Robert in die Zisterz genannte Einöde. Der Kalender zeigte den 21. März, den Festtag des Heiligen Benedikt: Nach Ansicht der Brüder ein idealer Termin, um ein neues Kloster zu gründen.

Ihr Leben war nicht einfach. Verachtet und verlacht, versuchten sie den Gegnern zu trotzen,  doch konnten sie ihre Idee, in Einsamkeit und von ihrer Hände Arbeit zu leben, gegen alle Widerstände durchsetzen.

Noch heute sieht sich Mariawald in der Linie dieser ersten Mönche. Es ist ein Kloster des Ordens der Zisterzienser der Strengeren Observanz (OCSO), allgemein Trappisten genannt,  und die elf Mönche werden seit 2006 von ihrem 9. Abt, Dom Josef Vollberg (43), geführt.

Er achtet darauf, dass der Tagesablauf im Gleichgewicht von körperlicher Arbeit und geistlichem Leben ist. Wie eh und je wird der gute Klosterlikör nach alter Rezeptur gebraut. Er hat die Mönche bekannt gemacht – zumindest bei Freunden eines kräftigen Tropfens; ist er doch hilfreich gegen Zipperlein aller Art. Auch die weithin bekannte Erbsensuppe wird seit den 50er Jahren als Pilgersuppe nach dem immer gleichen Rezept gekocht. Die Landwirtschaft spielt kaum noch eine Rolle. Da die Zahl der Brüder schrumpft, die Arbeit den wenigen verbliebenen über den Kopf wächst, verpachtete das Kloster seine 100 Hektar Land und Forst an den Nationalpark Eifel. Derlei Einnahmen sind wichtig, sichern sie doch die Finanzierung des Klosters.

Bei so viel nüchternem Realitätssinn ist es hilfreich, ab und zu an die wundersame Geschichte zu denken, die zur Klostergründung geführt hat. Sie erzählt vom Heimbacher Strohdachdecker Heinrich Fluitter, der 1460 eine Pietá kaufte, sie in einen hohlen Baumstamm mitten im Kermeter-Wald stellte und einen stillen Platz der Verehrung schuf, der immer bekannter wurde und 1480 zur Klostergründung durch die Zisterzienser von Bottenbroich führte.

300 Jahre betreuten die Mönche die Pilger, bis die Kämpfer der französischen Revolution brandschatzend durchs Land zogen und das Kloster 1795 aufgehoben wurde. Der wertvolle Antwerpener Schnitzaltar mit dem Gnadenbild wurde gerettet: Er fand einen neuen Platz in der Heimbacher Kirche.

1860 bauten die Trappisten aus der Abtei Oelenberg die mittelalterliche Klosteranlage wieder auf. Doch wurde ihre Arbeit durch den preußischen Kulturkampf jäh unterbrochen: Erst 1891 konnte die Klosterkirche wieder eingeweiht werden.1909 erhob das Generalkapitel des Ordens Mariawald zur Abtei.

Doch die Zeit der Prüfungen war noch nicht vorbei: Während des 3. Reichs wurde das Kloster erneut durch die Nazis geräumt und konnte erst ab 1945 wieder bewohnt und aufgebaut werden.

Heute versuchen die Mönche mit Zurückgezogenheit der Reizüberflutung unserer Zeit zu begegnen: Das Wissen um die Gegenwart Gottes in jeder alltäglichen Handlung nennen sie   „kontemplativ leben“.

Auszug aus dem Buch:

Ulrike Schwieren-Höger: Nationalpark Eifel – Der Erlebnisführer für die ganze Region, Gaasterland-Verlag, Düsseldorf

Informationen:

Abtei Mariawald, Zisterzienser von der strengeren Observanz (OCSO), Mariawalder Straße, 52396 Heimbach, Telefon: 02446/ 95060, www.kloster-mariawald.de

Tipps:

  • Männer, die drei bis acht Tage lang Klosterluft schnuppern und sich in der stillen Atmosphäre des Klosters besinnen möchten, können sich als Hausgäste den Mönchen anschließen.
  • Ein Pfad nach Mariawald ist steil und mühsam: Von der L 249 in Heimbach aus führt ein Stationenweg mühsam bis in die lichte Höhe.

Ein Kraftwerk macht Musik

Im Wasserkraftwerk Heimbach: 

Die Turbinen sind gewienert, Messing glänzt im letzten Licht des Tages und die Wandlampen leuchten. Dazu erklingt die „Elegie Nr. 1“ von Franz Liszt für Violoncello und Klavier: Das Kammermusikfestival „Spannungen“ verwandelt das Kraftwerk Heimbach Jahr für Jahr in einen der schönsten Konzertsäle der Welt.

Frei überspannt von einer Eisenbinderkonstruktion sitzen die Zuhörer in einer Industrie-Kathedrale, umgeben von feinstem Jugendstil, den Architekt Georg Frentzen in Szene gesetzt hat: Eine Hommage an die Wunderwelt der Elektrizität.

Dieser im wahrsten Sinne spannungsgeladene Ort erschien dem in Düren geborenen Pianisten Lars Vogt 1998 bestens geeignet, die Stars der Kammermusik zu präsentieren, immer im Juni, wenn die Lüfte lau sind und die Vögel draußen zur Ouvertüre tirilieren. Auf den Bühnen der Welt zu Hause, hat sich Vogt in Heimbach sein eigenes Festival erschaffen – in enger Zusammenarbeit mit dem „Verein der Freunde und Förderer von Kunst und Künstlern im Kreis Düren“, dem Deutschlandfunk und dem RWE als Hausherrn.

Blickfang und Bühnenbild ist die Leitwarte zur Steuerung der Generatoren: Sämtliche Messinggeräte sind auf Marmorplatten montiert. Die Tür zur Empore erinnert an eine Glühlampe, und das Prunkstück ist eine Schaltanlage in edlem Mahagonigehäuse, die von Messingstrahlen umrahmt ist. Draußen recken sich zwei Türme über das geschwungene Dach und erinnern mit ihren Rundbögen in strahlendem Weiß an orientalische Räume.

Das Kraftwerk Heimbach wurde in Verbindung mit der Urfttalsperre gebaut und 1905 in Betrieb genommen. Der Hintergrund: Über die Nutzung der Talsperre als Hochwasserschutz hinaus sollte die Wasserkraft auch Energie erzeugen und der Rurtalsperrengesellschaft Gewinn bringen.

Zwar liegt das Kraftwerk an der Rur, bezieht sein Wasser aber aus der Urfttalsperre durch einen Stollen, der durch den Kermeter führt, und 100 Meter oberhalb des Unternehmens in zwei Druckrohre übergeht. Die Anlage war bei ihrer Eröffnung mit einer Leistung von 12 Megawatt das größte Kraftwerk Europas und ist – wenn auch mit modernisierten Maschinen – bis heute in Betrieb.

Und es kann besichtigt werden mitsamt einer Ausstellung über historische Elektrohaushaltsgeräte.

Aus dem Buch:
Ulrike Schwieren-Höger: Der Rursee – Geschichte und Geschichten, Wartberg-Verlag

Informationen über das Wasserkraftwerk und Besuchsmöglichkeiten:
Besucherdienst RWE Power, Huyssenallee 2, 45128 Essen, Tel.: 0800/8833830

Informationen über das Kammermusikfestival „Spannungen“: 
http://www.spannungen.de/

Purzelbaum ins Glück

Impressionen aus der Welthauptstadt der Puppenspieler Charleville-Mézières in den französischen Ardennen: 

Oma war klein, zerbrechlich und voller Runzeln. Das weiße Haar  zum Knoten zurück gesteckt, die geblümte Bluse unter den weiten Rock gezurrt, wirkte sie wie ein altmodisches Relikt einer altmodischen Zeit. Als sie lästig wurde, packte sie jemand am Schopf und steckte sie in eine Tasche. Da lag sie kopfüber im Dunkel – weggeschoben, vergessen und überflüssig.

Doch Oma hatte Glück. Die flinken Hände einer Puppenspielerin der Theater-Truppe „Le Clan des Songes“ halfen ihr wieder auf die Holzbeine. Oma entfloh den herzlosen Enkeln und erlernte den Purzelbaum ins Paradies. Selig flog sie durch Zeit und Raum, fand eine einsame Insel – und Opa, gleich neben der schönsten Palme.

Dort lebt sie selbstverloren ihre Träume, wenn sie nicht gerade in Charleville-Mézières von ihrem Glück erzählt, denn dort sind alle zwei Jahre die Puppen los: Wenn das erste Holzköpfchen im Fußgängerzentrum die Augen hebt, ist nichts mehr, wie es war. Hübsche und grässliche, zarte und fette Puppen geben zehn Tage lang den Takt an und lenken alle Blicke auf sich. Manchmal scheint es, sie allein hätten die Fäden in der Hand.

Das „Festival Mondial des Theatres de Marionettes“ gilt als größtes Puppenspieler-Treffen der Welt. Akteure aus 40 Ländern und fünf Kontinenten zeigen bei rund 500 Aufführungen ihre Kunst. Es gibt viele Bravos für ein Spektakel, das 1941 mit der Idee eines Monsieur Jaques Felix begann. Er gründete in Charleville-Mézières eine Amateur-Puppen-Theater-Gruppe – mit umwerfendem Erfolg: Mittlerweile residieren der internationale Puppenspieler-Verband und eine staatliche Kunsthochschule des Gliederpuppenspiels in seiner Stadt.

Und das hat Folgen: Puppen zeigen sich in Charleville-Mézières überall, wo sie eine provisorische Bühne finden, selbst auf einem Boot. In der Schul-Aula trifft sich die Gräfin aus zartem Papier gern mit dem König, der nur ein Schatten seiner selbst ist. In den Grünanlagen kämpft das Kasperle für die Kleinen, während sich die Großen im Stadthaus vergnügen. Bunt ist die Welt der Puppen, und in Charleville-Mézièreres sind – Qualität und Professionalität vorausgesetzt – alle Techniken und Phantasien erlaubt.

Selbst im Stadtbild. Dort lässt der Metzgermeister eine Schlachterpuppe über den Rinderfilets tanzen, während Rotkäppchens Wolf laut schnarchend im Bett eines Dekorationsgeschäfts träumt. Am schönsten aber ist das Lächeln auf den Gesichters der Zuschauer, auf jungen und alten, vergrämten und frischen. Wie verzaubert, lugt manch einer auf die Puppen-Bühnen, die sich rund zwölf Stunden in den Sälen und Fußgängerzentren behaupten, und selbst die „gute Stube“ der Stadt beherrschen, den majestätischen „Place Ducal“.

Ob Stadtgründer Prinz Charles de Gonzague, der den Platz zu Beginn des 17. Jahrhunderts erbaute, mit all den Puppen glücklich wäre, sei dahingestellt. Doch dass sie sich dort mitsamt ihren Spielern wohlfühlen, ist keine Frage. Der Platz hat Flair und Charakter, kontrastiert doch die Strenge der Fassaden mit den spielerischen Details der Mansarden und Arkaden, unter deren Bögen unzählige Marionetten baumeln und ein Akkordeonspieler die leisen Töne probt. Nostalgische Kulisse für ein nostalgisches Stück Glück.

Wenn der Spuk vorbei ist, die Puppen ihr Leben ausgehaucht haben, die letzte Trommel verstummt, erinnert nur noch eine zehn Meter hohe Spieluhr an all den Trubel. Mit Klingklang erzählen die Puppen hoch im Turm der Uhr das ganze Jahr über die Geschichte von den vier Söhnen Aymons, die einst heroisch gegen Karl den Großen kämpften und seitdem als sagenhafte Gestalten durch die Köpfe der Ardenner spuken. Nach ihnen sind auch vier bizarre Felsen an den Ufern der Maas benannt. Und so viel Verehrung lässt erahnen, dass es vielleicht kein Zufall ist, wenn sich die Puppenspieler der Welt ausgerechnet von den Ardennen angezogen fühlen.

Schließlich waren die dunklen Wälder, die Quellen und Flüsse schon immer ein fruchtbares Feld für Märchen, Sagen und Phantasien: „Oft habe ich den Lauf meines Lebens mit dem der Maas, die so schnell und verschwiegen zu meinen Füßen dahin fließt, verglichen“, schrieb auch George Sand in ihr Tagebuch. „Sanft, ohne Wut, ohne Gewalt, fließt sie dahin und ihre bewaldeten Steilhänge – seltsam solide und kompakt – sind wie eine unerbittliche Vorsehung, die sie fest umschlossen hält und sie unter vielen Krümmungen vorwärts treibt…“

Madame Sand hatte von ihrer Villa aus den besten Blick über die geheimnisvoll fließenden Wasser. Für weniger Privilegierte bietet sich heute eine geruhsame Schiffstour auf der Maas an. Gemächlich tuckert das Boot über den Fluss, der sich 950 Kilometer durchs Land schlängelt und früher die einzige Straße der Region war. Schon die Römer transportierten Holz und Mineralien über den romantischen Wasserlauf, noch heute werden Brennstoffe und Schwermetalle durch die Region geschippert. Zwischen Charleville und Givet passieren die Schiffe 16 Schleusen, fünf Betriebe der Metallindustrie – und – nördlich von Montherm‚ – die „Dames de Meuse“. Hoch recken sich dort drei Bergrücken aus dem Wasser und symbolisieren die Sage der drei Frauen, die der heilige Christophorus wütend in den Ardenner Wald geworfen haben soll, um ihre Untreue zu bestrafen.

Nur wenige Kilometer weiter liegen die 7-Uhr-Felsen, deren Schiefergestein in der Morgenfrühe lila funkelt. Sie erinnern an den Ritter, der mitsamt seinem Roá bei einem tollkühnen Sprung ums Leben kam. Schließlich waren die Ardennen Jahrhunderte lang eine umkämpfte Region, die sich mit Wehrkirchen und Bastionen gegen ihre Feinde wappnete. Eine 140 Kilometer lange Tourismus-Straße erzählt noch heute von den Schlachten einer 2000-jährigen Geschichte. Das trutzigste Beispiel ist die Festung von Sedan, die mit ihrer 35 000 Quadratmetern als die ausgedehnteste Festungsanlage Europas gilt. Ihre sieben Etagen wurden vom Mittelalter bis in die Renaissance hinein gebaut und waren groß genug, um 4000 Mann Schutz zu gewähren.

Gruselig sind die meterdicken Wände, gespenstisch die Räume und Verliese, Angst erzeugend ist das Schutzbedürfnis ihrer Erbauer. Ein gigantischer Schutzwall – faszinierend und abstoßend zugleich -, der an den Sommer-Wochenenden zum Schauplatz eines Spiels wird: Dann huschen die Festungsbesucher mit Pechfackeln durch die Hallen, und manch einer fühlt sich als Ritter, der hinter düster-dräuenden Mauern den Feind erwartet. Von Puppen war in diesen Mauern selten die Rede. Von Omas noch seltener. Aber eine Insel der Seligen ist diese Burg ja auch wahrscheinlich niemals gewesen….

Informationen:
Das „Festival Mondial des Theatres de Marionettes“ findet alle zwei Jahre statt, das nächste Mal im September 2017. http://www.festival-marionnette.com/en/
Charleville-Mézières ist die Hauptstadt des französischen Départements Ardennes und hat rund 50.000 Einwohner.
Office de Tourisme, Place Ducale, B.P. 22908102 Charleville-Mézières, Tel.: (0) 3.24.55.69.904. www http://www.charleville-tourisme.com/

Grausam, Mann gegen Mann

Ernest Hemingway sah in Hürtgenwald „die Drachen hausen“ – als Kriegsreporter:  

Nebliger Dezember. Ein lausiger Wind fegt durchs Geäst. Wir parken zwischen Regenpfützen am Ochsenkopf bei Raffelsbrand. Rasch über die L 160; schon verschluckt uns der Wald. Hoch recken sich die schwarzen Fichten, verbreiten Düsternis und Eintönigkeit. Stille, unendliche Stille am Gedenkstein für zwei amerikanische und einen deutschen Soldaten: Ein Engelchen aus Keramik verziert ihr Grab, als wolle es in seiner Niedlichkeit das Grauen wettmachen, das dieses Land noch immer niederdrückt.

Abgelegen, einsam – tief verwundet steht der Wald. Er hat die Hölle gesehen: „Zu beiden Seiten des Weges lagen viele, viele Tote, deren Leichen nun aus dem Winterschnee wieder auftauchten. Diese von Wundbrand gezeichneten, entstellten und zerfetzten Körper waren starr und wirkten geradezu grotesk, manche hatten die Arme zum Himmel erhoben, als schrieen sie um Hilfe …. Hinter den amerikanischen Minen, etwa vier Meter entfernt, lag das deutsche Minenfeld. Und dahinter drei oder vier tote Deutsche. Ein dramatisches Beispiel dafür, wie die Kämpfe in Hürtgen verlaufen sein mussten. Heftig, grausam, Mann gegen Mann.“

Der das schrieb, war nicht schnell zu erschrecken. Der amerikanische Generalleutnant James Gavin hatte schon viele Gefechte angeführt, bevor er im Winter 44/45 nach Hürtgenwald kam: Hier tobte die längste Schlacht des 2. Weltkriegs. Anfang November waren Teile der 28. US-Infanteriedivision vorgerückt um – von Vossenack kommend – Schmidt einzunehmen. Doch die so genannte „Allerseelenschlacht“ endete nach wenigen Tagen für die Amerikaner in einem Desaster. Zwar hatten sie bereits am 11. September 1944 den Westwall bei Aachen erreicht; doch es gelang ihnen erst Ende Monate später die Rur Richtung Rhein zu überschreiten.

Fehleinschätzungen des Geländes und die tiefe Schlucht der Kall zwischen Vossenack und Schmidt vereitelten die rasche Eroberung. Eine amerikanische Division nach der anderen wurde im „Hurtgen Forest“ – wie die Amerikaner den Wald zwischen Aachen, Düren und Monschau nannten – vernichtet. Tausende junge amerikanische und deutsche Soldaten starben zu einer Zeit, als der Krieg für Deutschland eigentlich längst verloren war.

Der Hürtgenwald und seine Gemeinden wurden während des Wütens völlig zerstört. Jahrzehnte vergingen, bis es möglich war, wieder sicheren Fußes durchs Gelände zu gehen: Noch Jahre nach den Kämpfen explodierten Bomben, brannten die Wälder, wiederholte sich das Grauen in der Erinnerung der geschundenen Bevölkerung.

Noch Jahre nach den Kämpfen zog ein junger Mann namens Julius Erasmus als „Totengräber von Vossenack“ durchs verminte Gelände und achtete nicht auf die Gefahr von Minen und Blindgängern, denn er hatte nur ein Ziel: Er wollte die überall verstreuten toten Soldaten bergen, identifizieren und begraben. Fragen, warum er das mache, beantwortete er unumwunden: „Im Sommer 1945 kam ich nach Vossenack zurück. Ich hatte meine gesamte Habe verloren. Der Krieg hatte mir alles genommen. Und da fand ich sie in den Chausseegräben, am Waldrand, unter zerschossenen Bäumen. Ich konnte sie einfach nicht da liegen sehen, unbestattet und vergessen. Es ließ mir keine Ruhe.“ Allein auf dem Soldaten-Friedhof in Vossenack auf der heftig umkämpften „Höhe 470“ ruhen heute 2221 Soldaten aus vier Nationen, 930 von ihnen unbekannt.

Still ist es am Ochsenkopf, wo unter hohen schwarzen Fichten, die Heinrich Böll, den „jungen Wald“ nannte, weil sie allesamt erst nach dem Krieg wieder aufgeforstet worden sind, mancher Gedenkstein an die Gefallenen erinnert.

Still ist es im Wald, in dem – so Ernest Hemingway – „die Drachen hausen“. Als amerikanischer Reporter berichtete er in seiner Depesche „Krieg an der Siegfriedlinie“ von dem Grauen in einer Sprache, die allen heroischen Attitüden Hohn spricht und nur eins zeigt: Krieg ist unmenschlich und entwürdigend und hat nichts mit den Sonntagsreden zu tun, die auf Soldatenfriedhöfen so gerne gehalten werden: „Der Wald bestand aus Fichten, die dicht angepflanzt waren, und die Granaten krepierten zwischen den Bäumen und drehten sie ab und zerfetzten sie, und die Holzsplitter waren wie Spieße im düsteren Gehölz. Die Männer brüllten und zerschrieen die Finsternis, die verflucht war, und schossen und legten Krauts um und gingen jetzt vor… Es waren ungefähr zwölf, die herausgekommen waren. Der Rest war zerfetzt oder konnte nicht einmal kriechen. Beine lagen herum, Arme und Köpfe, es war ein verdammter Platz….“

Noch immer sind die Reste des Bunkers zu sehen, in dem die deutschen Soldaten krepierten oder grausam verstümmelt wurden. 1-Million-Dollar-Bunker nannten die Amerikaner den verfluchten Unterschlupf, weil unendlich viel Munition nötig war, um ihn endlich einzunehmen.

Das geschundene Land – noch immer in Schockstarre. Betroffen halten wir unser I-Phone in Händen: Goebbels hält Durchhalteparolen. Stolz ist er auf die Heimatfront, die durchhält in der Stunde der Bewährung und den Feind bezwingt „bis zum letzten Blutstropfen“.

Der grausige Wald zeigt derweil seine Wunden: Deckungslöcher, Stellungen, Gräben. Dank modernster Technik sind wir eingewoben in die Vergangenheit, die hier oben am Ochsenkopf ganz gegenwärtig ist: Panzer, Soldaten, Gewehre zeigt das Display; Originalfilme berichten von Angriffen und Tondokumente belegen, wie unfassbar grausam diese Kämpfe waren. Hoffnungslos und unmenschlich.

Nur ein einziger Lichtblick zeigte sich – in all den düsteren Monaten. Daran erinnert die Gedenkskulptur „A Time for Healing“ auf der Kallbrücke in der Nähe der Mestrenger Mühle. Sie würdigt den deutschen Stabsarzt Dr. Günther Stütgen, der im November 1944 mit den Amerikanern einen inoffiziellen Waffenstillstand aushandeln konnte, um die Verletzten beider Seiten behandeln zu können. Der glatte Stein ist schlicht und vermittelt den leisen Trost, dass in einer Welt, die aus den Fugen geraten war, ein Stück Menschlichkeit möglich wurde. – Für wenige Tage…

Informationen:
Auf sechs Themenschleifen des „Historisch-Literarischen Wanderweges – Hürgenwald 1938-1947“ besteht die Möglichkeit, mit einem „Historyguide“ in die Vergangenheit zu blicken. Bei Wanderungen direkt zu den Originalschauplätzen wird damit die Geschichte auf eindringliche Weise lebendig; zumal Augenzeugen und namhafte Schriftsteller wie Ernest Hemingway, Jerome D. Salinger und Heinrich Böll ihre Eindrücke schildern, die per iTunes über iPad oder iPhone abgerufen werden können. Originalfilme untermauern das Geschehen. Entwickelt wurde das einzigartige Konzept von der Konejung Stiftung Kultur für die Gemeinde Hürtgenwald. Sie stellt damit sieben Stunden authentisches Bild-, Film und Tonmaterial über die Geschichte des Hürtgenwaldes vom Westwallbau 1938 über die Kämpfe 1944/45 bis zum Waldbrand 1947 aus der Sammlung der Stiftung sowie aus Archiven aller Welt zur Verfügung.  www.mm-historyguide.de

Aus dem Buch:
Ulrike Schwieren-Höger: Nationalpark Eifel – Der Erlebnisführer für die ganze Region, Gaasterland-Verlag, Düsseldorf

 

Straße der Einsamkeit

Eine literarische Reise durch die Eifel: 

 

„Alfred Andersch? – Nein, den habe ich nicht mehr gekannt“, sagt die junge Bäuerin und schütelt energisch den Kopf. „Aber ich weiß, dass er hier ein und aus ging, seine spätere Frau hat ja bei Bischofs gewohnt.“

Ein Schriftsteller wird gesucht. Ausgerechnet in Rommersheim. Das verschlafene Eifeldorf bei Prüm spukte Alfred Andersch (1914 – 1980) durch den Kopf, als er „Winterspelt“ schrieb. Winterspelt ist Rommersheim. Und Andersch ein unerbittlicher Beobachter: „Auffällig die Menschenleere, die Leblosigkeit… Die Siedlungen der Eifel waren nicht schön, oder auch nur anmutig, malerisch, sondern ohne Gefühl für Form, abweisend.“ Die Bäuerin im Eifelhof zuckt die Achseln: „Den Roman hat hier kaum jemand verstanden. Ein schwieriges Buch.“

Die Schriftsteller und die Eifel – eine schattenreiche Geschichte.  Sie erzählt von glühender Heimatliebe und tiefer Verzweiflung über Enge und Angepasstheit, sie verherrlicht Müh und Arbeit, berichtet naiv über Feste, sozialkritisch über Sitten und Bräuche. Es gibt nicht die typische Eifel in der Literatur. Jeder Autor sieht die Landschaft anders.

Der Organisator und Initiator des Eifelliteraturfestivals, Dr. Josef Zierden, brachte ein Lexikon heraus, in dem rund 300 Autoren mit Eifelerfahrung genannt sind, darunter Berühmtheiten wie Ernest Hemingway, Charles Bukowsky, Goethe, Mario Adorf, Heinrich Böll, aber auch Vergessene, Unbekannte, Heimatdichter.

Fromme Sagen haben sie notiert und bissige Karikaturen, spannnende Krimis, romantische Erzählungen, schreckliche Kriegsberichte, experimentelle Gedichte.

Vielfältiger könnten seine Fundstücke nicht sein. „Eine Landschaft wie ein verregneter Sonntag mit Glockenläuten“, nennt Albert Pütz (63) die Eifel. Verzückt ist Hermann Löns (1866 – 1914): „Ich freue mich an allem, was da lebt und webt und grünt und blüht.“ Ins schiere Schwärmen gerät Charles Kingsley (1819 – 1875): „Ich habe solche Wunder wahrgenommen. Krater mit gespensterhaft blauen Seen..“

Ein Symbol für die eruptiven Entladungen menschlicher Leidenschaften sieht Emmi Elert (1864 – 1917) in der „vulkanischen Erde“. Und Eifelpreisträgerin Ursula Krechel (47) verdichtet diesen Gedanken  zu einem Szenario unterdrückter Begierden.

Wer auf den Spuren dieser Autoren durch die Südeifel reist, sieht mehr als die touristisch aufgeputzte Idylle, fährt nicht achtlos an Höfen vorbei, die einsam und abgeschottet dem Umfeld trotzen, sondern fragt, wie sehr das karge Land seine Bewohner prägt.

Und wenn er nach Eisenschmitt kommt, in dieses entlegene, von waldigen Bergen umrahmte Nest, spukt ihm vielleicht eine Geschichte durch den Kopf, die von Armut und Not erzählt, aber auch von einem Skandal, der die Grundfesten des Ortes erschütterte.

Auf den ersten Blick ist davon nichts zu sehen. Die Sonne leckt über die Asphaltstraße, ein paar Frauen, die Kittelschürzen glattgestrichen, schlurfen durch die Gassen, ein alter Mann, den Rücken tief gebeugt, setzt Kartoffeln. Frühjahr nistet im Gemäuer. Die Nässe kriecht durch zugige Ställe, ein Schäferhund döst unterm Lindenbaum.

Clara Viebig (1860 – 1952), die bedeutendste Erzählerin des deutschen Naturalismus, hat das Dorf um die Jahrhundertwende auf einen Schlag berühmt gemacht. Ein Ort ohne Männer, ein „Weiberdorf“ ist ihr Eisenschmitt, denn die Familienväter des Ortes zog es damals aus dem kargen, armseligen Salmtal ins Ruhrgebiet, wo sie mühsam ihr Brot verdienten.

Zurück blieben die Frauen und Pit Miffert, der am linken Bein lahmte. Ein Objekt weiblicher Begierede: „Sie hielten ihn umstellt, wie ein Rudel ausgehungerter Wölfe den waidwunden Bracken; ihre Augen glänzten und glitertzen, sie maßen sich untereinander mit Raubtierblicken – wem fiel er zu?“

So viel Deftigkeit war den Eisenschmittern zu viel. Sie bedrohten die Dichterin, wüteten gegen diese Unverschämtheit. – Verziehen haben sie ihr nie. Zwar prangt die Clara mittlerweile auf dem Dorfbrunnen, direkt vor der Kirche, und jedermann kann dort ihr Profil bewundern, aber er muss sich schon bücken, denn die Viebig wurde bewusst auf die unterste Ebene verbannt, um die „eher untergeordnete Bedeutung“ des Romans „in der Geschichte Eisenschmitt“ zu dokumentieren.

Nur wenige Kilometer weiter, im sagenumrankten Manderscheid, dessen Burg – einem traumseligen Märchen gleich – zwischen hoch aufragenden Bergen klebt, hat Stefan Andres (1906 – 1970) seine Novelle „Der Menschendieb“ angesiedelt, die vom Beschränkten und Kleinbürgerlichen erzählt, das im Windschatten dieser Berge – in langen und düsteren Wintertagen – oft vortrefflich gedeiht.

Doch dann öffnet sich der Wald: Kloster Himmerod triumphiert im Sonnenlicht. Grandiose Einsamkeit, die Albert Pütz zu einer literarischen Geheimtagung ehemaliger Hitleroffiziere inspirierte. Ihr Plan: Aufbau einer neuen Wehrmacht zum Kampf gegen den Bolschewismus. Ein düsteres Szenario, das so gar nicht zu der weitläufigen Gelassenheit passen will, die der Abtei an einem heiteren Tag so prächtig steht: Im Restaurant schwatzen Ausflügler, Harfenklänge schweben durch die Bücherstube, ein Gärtner harkt den Sommer ein.

Aber das Sagenhafte ist allgegenwärtig: „Nach Sonnenuntergang füllt sich das Wasserrevier mit grünstichigem Licht“, schreibt Albert Pütz. „Im allerletzten Licht wächst und blüht eine Stille wie hinter dick verstaubten Tüllvorhängen. Noch heute hält sich jeder Fischer im Himmeroder Talgrund für verflucht, wenn er in diesem Moment der großen kosmischen Energie, ein Christ würde sagen, in diesem Moment der Gottesgegenwart, sein Netz oder seinen Köder auswirft, um Fisch zu landen.“

Vielleicht sind es solche Geschichten, die Theodor Weißenborn (62) in die Einöde ziehen. Fernab vom Treiben der Welt reflektiert er gern über das Wesen der Zeit und die Vergänglichkeit. Und wer den Schriftsteller besuchen will, muss eine kilometerweite Reise über Landstraßen zurücklegen, dichten Wald und frisch gemähte Felder an sich vorbeiziehen lassen, Witterung mit der Einsamkeit aufnehmen.

Ein Jahrhundert zuvor wählte Peter Zirbes (1825 – 1901), der gemeinhin als der erste Eifeldichter gilt, notgedrungen den umgekehrten Weg. Er reiste als wandernder Steinguthändler sozusagen von Leser zu Leser und mühte sich Tag für Tag, seinen Unterhalt zu verdienen – mit Krügen und Gedichten: „Wollt ihr, dass ich noch fort singe? Gebt mir Brot! Frohes Lied nicht, herbe Klage bringt die Not.“

Sein Wohnhaus in Niederkail bei Wittlich liegt wie verwunschen im Talgrund und öffnet sich mit einem kleinen Museum für Besucher, die nachempfinden möchten, wie karg und düster, wie beschränkt und ärmlich dieses Dasein war. Und manch einer ahnt, warum in diesen geduckten Wohnstuben das Sagenhafte und Gespenstische gedieh, dem sich selbst ein Autor wie Ernest Hemingway nicht entziehen konnte.

In unvergleichlicher Härte hat er den Krieg „an der Siegfriedlinie“ beschrieben. Doch angesichts der schweigend-düsteren Berge und der wispernden Wälder durchzog auch ihn ein Frösteln, das er in den „49 Depeschen“ notiert: „Das Wetter war umgeschlagen. Es war kalt, es goss, ein halber Sturm wehte, und vor uns lagen wie eine Mauer die schwarzen Forsten der Schnee-Eifel, wo die Drachen hausten.“

Die Eifel und ihre Dichter. Anspruchsvoll wie kaum ein anderer hat Alfred Andersch in der Erzählung „Die Letzten vom Schwarzen Mann“ den leisen Zwischentönen, dem sagenumwobenen Unterbau, der Psychologie der Landschaft im Herzen Europas nachgesp+rt – einer Landschaft, die so weitläufig und erhaben ist, dass sie von Menschen gezogene Grenzen lächerlich macht, und jedem, das gibt, was er in ihr sucht: „Roland liebte Grenzen, weil an ihnen die Länder unsicher wurden. Sie verloren sich in Wäldern, zerfransten sich in Karrenwegen, die plötzlich aufhörten, in Radspuren, in Fußpfaden, unterm hohen gelben Gras, das niemand schnitt, in Sümpfen, Wacholder, verrufenen Gehöften, Einsamkeit, Verrat und Bussardschrei. Schnee-Eifel hieß das, Ardennen, Hohes Venn…“

Sehnsucht nach Sinn

60.000 Menschen pilgern im Jahr zur Salvator-Kirche in Heimbach. Einige von ihnen suchen an diesem mystischen Ort nach Mehr:

Regentropfen perlen an den Fenstern des Stadt-Cafes hinunter, die Rur in einen Nebelmantel gehüllt. Rasch überquert der Mann die Hengebachstraße. Das Haar, strähnig-schwarz zurück gekämmt, der Trenchcoat wogt um den dürren Körper. Suchend blickt er nach rechts und links und setzt sich an den Nebentisch.
‚Franzose? Belgier?‘ denke ich. Er bestellt eine Tasse Kaffee und nickt mir zu: „Ich komme aus München“, sagt er auf sein Auto am Straßenrand deutend. „Mein Ingenieurbüro hat in Köln eine Niederlassung. Und wenn ich Zeit habe, mache ich gern einen Abstecher nach Heimbach.“
Er lächelt – beinahe verlegen. „Wissen Sie, ich mag die Pieta hier in der Salvator-Kirche. An düsteren Tagen wirkt sie besonders geheimnisvoll. Die dunkle Kirche und die Madonna, beleuchtet von einem Lichtspot am anderen Ende der Halle. Es sieht aus, als strahle sie golden über sich hinaus.“
„Ach ja, der Antwerpener Schnitzaltar“, sage ich. „Eine Kostbarkeit – berühmt im ganzen Rurtal.“ –
„Nein, nein, ich meine nicht den Altar“, lächelt er. „Es ist die Schmerzensmutter selbst, die mich nicht loslässt. Eine einfache Arbeit. Volkstümlich. Klein. Aber ihr Gesicht, ihre Gestalt, ihre Innigkeit.“
Ich nicke. Verwirrt schaue ich auf die alte Steinbrücke über der Rur, die in den feuchten Schwaden zu schweben scheint. Ein paar Schulkinder mit roten Regenjacken ziehen schwatzend vorbei. Von Ferne läuten die Glocken der St. Klemens-Kirche.
„So viele Menschen und diese merkwürdige Geschichte“, sagt der Mann und dreht seine Kaffeetasse in den Händen. „Da ist dieser Strohdecker Heinrich Fluitter. Armselig ist er. Hoffnungslos. Ein kleiner Arbeiter, der nach Köln geht, um ein paar Habseligkeiten zu kaufen. In der Domstadt entdeckt er 1460 die Pieta und ist tief berührt. Er leiht sich neun Mark und kauft sie. – Seine Familie wird nicht begeistert gewesen sein. Also bringt er seine Madonna in den Wald, baut ihr ein schützendes Dach, schaut Tag für Tag, ob alles in Ordnung ist, entfernt sich mit jedem Gang mehr von den Seinen. Ein Außenseiter, der an seine Mission glaubt. Ein Gläubiger, der Menschen neugierig macht – bis heute.“
Es sei die Leidenschaft für einen als richtig erkannten Weg, die ihn fasziniere, sagt er. Dieses Wissen, das keinen Widerspruch mehr zulasse.
„Wie gerne würde ich das Geheimnis ergründen, wo in der Seele diese Kraft nistet, wirklich unbeirrbar seinen Weg zu gehen – und wie sie geweckt werden kann“, flüstert er.  –
„Sind Sie ihrem Ziel näher gekommen?“ Er schüttelt bedächtig den Kopf. „Ich werde weiter suchen. In guten Momenten spüre ich deutlich, was es ist, das Leben. Wissen Sie, in unserem Alltag haben wir den Himmel doch entzaubert. Da ist nur noch Kosmos, Universum, Unendlichkeit. Aber dennoch: All die Menschen, die Jahr für Jahr nach Heimbach pilgern; sie kämen nicht, wenn sie nicht an die Magie des Ortes glaubten.“
Er lehnt sich zurück und schaut nach draußen auf die vor Nässe tropfenden Blätter. „Warum kommen Sie immer wieder?“ frage ich leise. Er zögert, schaut mich an und betont dann jedes Wort: „Ich will lernen, ganz mit mir zu sein. Ich will spüren, was mir wirklich wichtig ist jenseits von Termindruck und Erfolg. Vor diesem Altar hier in Heimbach habe ich Zeit, den Himmel in mir selbst zu suchen, mich zu fragen, wie es mir gelingen kann, aus meinem Leben ein Kunstwerk zu machen. Hier übe ich mich in Disziplin, um mehr über mich und mein Leben zu erfahren. ”
Vorsichtig greift er in seine Jackettasche und zieht einen Zeitungsartikel heraus. Mit fetter blauer Tinte hat er einen Satz angestrichen: „Jahr für Jahr ziehen 60.000 Menschen zur Schmerzensmutter nach Heimbach.“
„Alle sind bepackt mit Fragen“, sagt er. – „Stellen wir ein paar: Kann  die Gottesmutter uns wirklich helfen oder hoffen wir nur, in ihrer Nähe etwas Ruhe zu finden? Haben wir eine bestimmte Aufgabe in dieser Welt – und wenn ja, welche? Wie können wir dem Tod begegnen und trotzdem leben? Wir hoffen auf Antworten und suchen einen Fluchtpunkt. 60.000 Menschen im Jahr meinen, ihn hier in Heimbach zu finden. Viele von ihnen erleben Freude – und sei es nur die Freude, den Pilgerweg geschafft zu haben.“
„So viel Aufwand für ein wenig Freude? Wer pilgert, will aufbrechen und aufbrechen, heißt hoffen“, sage ich.
– „Hoffen, wirklich hoffen, heißt wissen“, entgegnet er. „Wissen, dass jeder Augenblick die Wende bringen kann und dass jede Sekunde – tief und bewusst erlebt – das ganze Geheimnis birgt.
–       Jetzt.“